Wer lehrt mich, was ich vergaß:
der Steine Schlaf

Vollendete Gegenwart und Abschied

 

was unbedingt dazugehört:
verborgen und offenbar

Liebe Frau Janz, Sie haben zu meiner Frau gesagt: “Er hat so wunderbare Arbeiten gemacht.”
Wissen Sie – meine Damen und Herren -, wie dieser Satz, den ich mir aufgeschrieben habe, in meinen Ohren immer noch klingt?
Als schlichte und ergreifende Bewunderung.
Weniger, als was Angelika Janz gerade eben über Ihren Mann gesagt hat und gerade so viel, dass, was die Bewunderung ausmacht, sichtbar wird – immer wieder sichtbar wird – und dauerhaft bleibt

In Erinnerung bleibt! Man muss nur eine von den vielen Arbeiten von Dieter Eidmann gesehen und unmittelbar verstanden haben. Dagegen gegenwärtig bleibt, wenn man gleichzeitig auch ihn selber sieht: mit einem Lächeln, das ich bisher nur bei ganz wenigen gesehen habe. So fein, dass es, kaum dass ich es vor Augen habe, auch schon wieder verloren geht. Ich bewahre aber Spuren von Verschmitztheit und Schalk.

Ich weiß nicht, ob ich damit die richtigen Worte sage. Ich glaube aber: Was Ihnen, die Sie Dieter Eidmann gut kennen, daran unzutreffend vorkommt, könnte seine Lebenskunst ausgemacht haben.

Schalk um Mund und Augen. Und ich höre im
Klang seiner Stimme leise beiläufige Worte, von
denen ich keins mehr genau weiß, weil große
Worte und Merksätze nicht seine Sache gewesen sind.

Deswegen habe ich gerne mit ihm gesprochen.
Über alles mögliche. Wo begegnet man schon
Menschen, die so wenig aufdringlich sind wie er:
nicht herausfordern und nicht beharren.

Da ich einfach nicht mehr sagen kann, als worüber ich verfüge, habe ich mir noch einmal das Foto von ihm angesehen, auf dem er seine linke Hand, ohne den Stein zu berühren, dicht über der Skulptur hält: für
ihn wahrscheinlich die schönste Arbeit, die ihm gelungen ist. Man kann auf diesem Foto – vielleicht aber noch besser auf dem anderen Foto, das ihn bei der Arbeit zeigt – seine Behutsamkeit sehen, die auch das massive Handwerkszeug vorne im Bild nicht beeinträchtigt. Gleichzeitig aber auch seine Kraft: für jede der kraftvollen Mitteilungen, mit denen er auch sich selbst mitteilt.

Dieter Eidmann
Dieter Eidmann mit Noir de Mazy2015

Mir hat, nachdem meine Mutter gestorben ist, mit einer Beileidskarte unser Pastor in HamburgEppendorf geschrieben: Man bleibt den Toten immer etwas schuldig. Er meinte vor allem Versäumnisse, und ich wusste sofort, welche versäumten Gelegenheiten das waren: wahrscheinlich war es bei mir sogar nur eine einzige, über die auch Trauer lange nicht wegkommt. Oder nie. Weil ich -wie viele andere und die Fischer – die Aufforderung nicht beherzigen: „Fahrt hinaus, und wartet nicht auf
die Nacht.“ (Johannes Bobrowski)

„Wer lehrt mich,
was ich vergaß:
der Steine
Schlaf?“

(Johannes
Bobrowski)

Jetzt ist meine Trauer ähnlich, weil ich bedauere, dass die Gespräche mit Dieter Eidmann nicht rücksichtsloser gegenüber der Zurückhaltung waren, in der wir unsere Verlegenheiten und Geheimnisse verstecken. Andernfalls hätten wir uns sehr viel mehr verschwistern können, als es der Fall war – er und ich -, und Ehrlichkeiten – vielleicht sogar – zum Laut-darüber-Lachen offenlegen können.

Es bleibt für mich und meine Frau jedenfalls bei dem, was auch die beiden Plastiken zeigen, die wir bei uns zu Hause von ihm haben: Wie sich unter einer Decke kantige Formen abzeichnen und vermeintliche Bewegungen
als erwachende Anwandlungen, Gebärden und Erregungen sich zwar durchdrücken, aber nicht enthüllen.

Janz, und Ihnen allen sagen soll. Leid und Trauer passen so gar nicht zu der Unmöglichkeit, sich den eigenen Tod und den Tod eines lieben Menschen wirklich vorstellen zu können. Wissen: ja. Aber nicht: sich vorstellen. Unmöglich, dass ich mir vor Augen führen kann: Es gibt mich eines Tages nicht mehr.

Deshalb wird man mit Leid und Trauer auch nicht fertig. Immer wieder fällt einen der Verlust unangekündigt an. Es genügt ein Wort, eine Geste. Aber je mehr vertraute Wörter und Gesten, desto unmerklicher schleicht sich auch eine Umstimmung ein, und die Geheimnisse der Person, die gestorben ist, werden von Anekdoten umschlossen und in Anekdoten offenbar: in Anekdoten, die – so der enge Wortsinn – eigentlich nichts herausrücken wollen, aber schon zu Dritt, wenn nur drei Anekdoten zusammenkommen – sagt man -, das ganze Bild eines Menschen zeichnen.

Indem aus dem Leben von Dieter Eidmann immer wieder – einfallsreich und liebevoll – erzählt wird, werden die Geschichten über ihn und seine Arbeit dazu beitragen, dem Tod den Stachel zu nehmen.
Es wird viele Gelegenheiten geben, von denen vielleicht die beiläufigsten am meisten überraschen: als Vergegenwärtigung und Wiedererweckung – mit erstaunlicher Bild- und Tonschärfe übrigens.
Dieter Eidmann lebt im Gedächtnis und in der Erinnerung all derer, die ihn kennengelernt haben und heute hierher gekommen sind. Auch im Gedächtnis von mir und meiner Frau. Wir beide könnten jetzt schon Geschichten über ihn erzählen.
Ich kehre nochmal zum Anfang zurück: “Er hat so wunderbare Arbeiten gemacht.” Liebe Frau Janz: Sie benutzen in diesem Satz – sowohl grammatisch als auch chronologisch – die vollendete Gegenwart und machen sich seufzend den schönen Satz zu eigen: “Das Leben ist kurz, aber es reicht aus, die größten Dinge zu vollbringen.” (Seneca)

Ach ja:
Seufzend! Vielleicht kennen Sie auch diesen geheimnisvollen Satz von einem französischen Lyriker (Émile M. Cioran), mit dem ich schließen will:

„Während das Paradies im Tiefsten des Bewusstseins seufzt, weint das Gedächtnis.“

Ernst-Jörg Neuper in Greifswald am 29. August 2017 im St. Spiritus